Nach 3 Monaten und 3 Tagen: Die Flucht einer Ezidin aus den Fängen des IS
Während unseres ersten Aufenthalts in Kurdistan/Nordirak haben wir am 4. Januar 2015 eine junge Frau getroffen, die aus der IS-Gefangenschaft fliehen konnte: Samira, 20 Jahre alt, stammt aus dem Shingal (Til Azer). Sie lebt derzeit mit ihrer Mutter und ihren vier kleinen Brüdern in einem Rohbau in Shekhan, in der Nähe der kurdischen Stadt Duhok.
Ein kleiner Junge öffnet und führt uns in die obere Etage des Rohbaus. Dort werden wir von Samira empfangen. Der Raum scheint das einzige beheizte Zimmer zu sein, wie so üblich in den Flüchtlingsunterkünften. Auf der mobilen Ölheizung kocht das Wasser für den Tee, an der Wand hängen ein kleiner Spiegel und eine Puppe. Im Zimmer sind mehrere Matratzen aufeinander gestapelt, daneben liegt ein kleines schlafendes Kind. Das Zimmer scheint das Zentrum des Familienlebens zu sein.
Bevor wir mit dem Gespräch beginnen, wollen wir uns vergewissern, dass Samira mit unserer Anwesenheit einverstanden ist und sich nicht gedrängt fühlt, mit uns reden zu müssen. Nachdem sie uns zugesichert hat, dass sie uns ihre Geschichte erzählen möchte, lassen wir sie einfach berichten. In der ganzen Zeit bleibt ihre Mutter auf ausdrücklichen Wunsch Samiras im Zimmer.
Als wir mit beiden allein sind, beginnt zunächst die Mutter von den Gräueltaten zu erzählen. Sie berichtet, dass man ihren Mann und weitere männliche Familienmitglieder vor den Augen der Tochter erschossen habe, während sie und andere Frauen aus der Familie in einem Raum eingesperrt waren. Insgesamt wurden 24 Mitglieder der Familie getötet. Als die Mutter erwähnt, dass der Tod des Vaters Samira sehr mitgenommen habe, brechen beide in Tränen aus. Nach der Ermordung der Männer wurden die jungen Frauen der Familie verschleppt. Den zurückgelassenen Frauen gelang dann die Flucht aus dem Einflussbereich des IS, die sich über mehrere Tage hinzog.
Wir fragen Samira vorsichtig, ob sie nun von ihrer Flucht und Befreiung berichten wolle. Sie beginnt mit starrem Blick zu erzählen. Als ihr Dorf von der Terrormiliz IS umzingelt war, suchten sich die Terroristen die ,,schönsten“ Frauen aus den Familien aus und brachten diese in eine separate Unterkunft. In ihrem Beisein wurden Samiras Vater, ihr Onkel und ihre Cousins getötet. Mit den Autos der Familien nahmen die Terroristen sieben Mädchen mit und verschleppten sie zunächst nach Siba Shex Xidir, einem yezidischen Dorf im Süden der Shingal-Region. Dort angekommen wurden sie nach einigen Stunden von einem anderen Transporter abgeholt und weiter südlich nach Baaj in eine Schule gebracht.
Von dort aus ging es schließlich weiter nach nach Mosul, der großen Metropole im Nord-Irak und Hochburg der Terroristen. In Mosul angekommen, wurden die Mädchen für zwei bis drei Tage in Hallen untergebracht. Jeden Tag brachte man sie von einer Halle in die nächste. Am letzten Tag sperrten sie die Mädchen in ein dreistöckiges Gebäude ein.
In diesem großen Haus befanden sich etwa 3.000 Frauen und Kinder. Die IS-Terroristen notierten sich die Namen der Gefangenen. Samira kam mit ihren drei Cousinen in ein Zimmer. Dort reihte man Stühle aneinander und die Mädchen, die als ,,schön“ angesehen wurden, mussten sich daraufsetzen. Dann wurden sie durch einen Kellerausgang zu einem wartendenden Transporter geführt.
Man brachte sie in ein weiteres großes Gebäude. Samira erwähnt, dass es sich dabei um ein christliches Haus gehandelt haben muss; sie habe ein zerstörtes Kreuz gesehen. Das Haus wurde von Männern des IS bewacht. Einer der Männer sagte den Mädchen, nur Gott wisse, wohin sie jetzt gebracht würden. Um sechs Uhr in der Früh ging es dann nach Syrien. Bei dieser Fahrt seien 62 Mädchen transportiert worden. In Syrien angekommen wurden die Gefangenen erneut in einem Gebäude untergebracht. Jeden Tag „verkauften“ die Terroristen etwa neun Mädchen.
Auch Samira wurde verkauft – an einen Mann aus Australien, der sie versklavte. Zunächst war sie seine einzige Sklavin. Dann beschloss ihr „Besitzer“, sich weitere Sklavinnen zu verschaffen. Er „kaufte“ zwei Schwestern aus Kojo, ebenfalls ein yezidisches Dorf, ganz nahe dem, aus dem Samira stammte. Die beiden Schwestern blieben zwanzig Tage gemeinsam mit Samira in dem Haus des australischen IS-Kämpfers. Danach wurden sie weiterverkauft. Einige Tage später brachte der neue „Besitzer“ Samira ein Handy mit, mit dem sie ihre Familie kontaktieren sollte. Sie rief einen Onkel aus Deutschland an, der sie freikaufen sollte. Doch das klappte nicht und Samira blieb weiter in Gefangenschaft.
Die entscheidende Möglichkeit zur Flucht ergab sich erst, als ihr „Eigentümer“ nach Deir El Zor fuhr und offensichtlich länger dort blieb. Am vierten Tag seiner Abwesenheit nahm Samira telefonisch Kontakt mit ihrer Familie auf, die dann die Flucht organisierte. Kurze Zeit nach dem Anruf erblickte Samira vor dem Haus ein weißes Auto. Mit ihrem Schal signalisierte sie den Befreiern, arabische und kurdische Freunde ihres Vaters, dass sie die gefangene Person sei. Außer Samira wurden noch sechs weitere Mädchen befreit. Um während der Flucht nicht aufzufallen, stülpte Samira sich eine schwarze Burka über.
Die Männer fuhren mit den Mädchen in Richtung der türkischen Grenze. Doch die Grenzwächter ließen sie nicht passieren, weil man sie für Terroristen hielt. Erst am nächsten Abend gelang ihnen die Flucht über die Grenze; sie kamen bei einer Familie in Gaziantep unter. Von dort aus fuhren sie weiter nach Viransehir und blieben dort zwei Tage, dann reisten sie weiter und erreichten schließlich sie die Autonome Region Kurdistan im Nord-Irak.
Momentan lebt Samira zwar mit ihrer Mutter und ihren vier Brüdern in dem Rohbau in Shekhan. Doch sie möchte nach Deutschland, weil sie nicht wisse, was sie in ihrer Heimat solle. Sie könne sich in diesem Land ein weiteres Leben nicht vorstellen. Sie fühlt sich körperlich erschöpft und – so müssen wir hinzufügen – sie ist es sicherlich auch psychisch und mental.
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Text: Rezan Sönmez
© hawar-hilfswerk