,,Wir sind Alle unvollkommen“

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Die 24-jährige Z. hatte einen Monat und drei Tage lang so viel Gewalt erlebt und gesehen, dass es fast unvorstellbar scheint, dass sie noch auf den Beinen stehen kann und sich nicht längst aufgegeben hat. Ihre Stärke und ihr Wille zum Überleben waren ihre Rettung – die Rettung vor den barbarischen Gräueltaten der Terroristen des sogenannten Islamischen Staates (IS).

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Ezidische Frau in einem Flüchtlingscamp in der Türkei Photo: Reuters

Die 24-jährige Z. hatte einen Monat und drei Tage lang so viel Gewalt erlebt und gesehen, dass es fast unvorstellbar scheint, dass sie noch auf den Beinen stehen kann und sich nicht längst aufgegeben hat. Ihre Stärke und ihr Wille zum Überleben waren ihre Rettung – die Rettung vor den barbarischen Gräueltaten der Terroristen des sogenannten Islamischen Staates (IS).

Nach dem Überfall des IS auf die jesidischen Dörfer im Shingal in der Nacht vom 2. auf den 3. August 2014 wird Z. gemeinsam mit ihren beiden Schwestern sowie 18 weiteren jungen Frauen und Mädchen aus ihrer Familie gerissen, entführt und verkauft. Zuvor müssen die Mädchen mit ansehen, wie ihre männlichen Familienmitglieder erschossen werden. Z. wird aus ihrem Dorf in die Stadt Mosul verschleppt und zehn Tage lang zusammen mit den anderen Mädchen gefangen gehalten. Sie hungern, werden gefoltert und erleben Unmenschlichkeit in primitivster und brutalster Form. In ihr Essen werden Drogen gemischt, damit sie nach dem Essen ermüden. Das Trinkwasser wird mit Benzin verdünnt – ihre Haare fallen aus und ihre Gesichter werden durch Wunden und Geschwüre verunstaltet. Mosul dient als Zentrum für mehrere tausend gefangene Frauen und Kinder, denen es nicht anders ergeht.

Nach dem Zwischenstopp in Mosul wird ein Teil der Frauen nach Baaj verschleppt. Diese Stadt ist das Zentrum des Frauenhandels. Auch in den acht Tagen dort erleben sie Folter, Hunger und Erniedrigung.

Unter ihnen befindet sich ein kleines siebenjähriges Mädchen, das ebenfalls verkauft werden soll. Z. selbst wird an einen Käufer aus Saudi-Arabien verkauft. Die Tage bis zu ihrer Flucht verbringt sie gemeinsam mit weiteren Sklavinnen in Til Qasab.

Ihr Körper ist gezeichnet von Wunden, ihre Seele vernarbt von den erlittenen Entwürdigungen. Nur der Gedanke an Flucht hält sie aufrecht. Eines Nachts bietet sich eine günstige Gelegenheit. Trotz der prekären Lage schließt sich nur eine 13-jährige Gefangene an, die anderen fürchten sich vor der Brutalität der Terroristen und entscheiden sich zu bleiben. Den beiden gelingt die Flucht im Schutz der Dunkelheit. Als einzige, sicherlich im Notfall unzureichende Waffe dient ihnen ein Messer.

In der Nacht finden sie zunächst Zuflucht bei einer benachbarten Familie. Am nächsten Tag fährt ein Familienmitglied sie, gehüllt in eine Burka, in ein Gebirge. Nun sind sie auf sich allein gestellt. Den einzigen Schutz bieten nur noch die Berge. Zwei Tage lang irren die beiden herum, bis sie die Familie des Mädchens ausfindig machen. Nun macht sich Z. allein auf den Weg und gelangt in die kurdische Stadt Duhok – außerhalb der IS-Gebiete und damit in Sicherheit.

Auch wenn sie fliehen konnte, fühlt sie sich dennoch nicht frei. Das Einzige, was ihr helfen könnte, wäre ihre Familie. Aber ihre Schwester wurde aus der IS-Gefangenschaft an einen Syrer verkauft, und ihre anderen Familienmitglieder leben weiterhin im vom IS erorberten Gebiet. Solange die Familie nicht in Sicherheit ist, wird sie niemals innere Ruhe finden.

Z. beschreibt ihren Zustand und den ihrer Leidensgenossinnen mit folgendem Satz ,,Em gisht kemin”, was so viel wie ,,wir sind alle unvollkommen” bedeutet.

Die Erlebnisse der Z. sind lediglich eine Geschichte von vielen. Derzeit befinden sich immer noch schätzungsweise 7.000 ezidische Frauen in der Gefangenschaft des IS. Nur wenigen gelingt die gefährliche Flucht.

Frauen, die in der Gewalt des IS waren, sind hochtraumatisiert. Die baden-württembergische Regierung hat sich bereit erklärt, 1.000 geflohene ezidische und christliche Frauen aufzunehmen. Auch Z. konnte mit Hilfe des Aufnahmeprogramms nach Deutschland flüchten, um hier die therapeutisch behandelt zu werden.

Wir haben Z. und 16 weitere Frauen und Kinder besucht, die vom IS gefangen gehalten und gequält wurden, und uns ihre Geschichten angehört. Heute leben sie in einem Flüchtlingsheim weit weg von ihren Familien. Ihr Wunsch ist es, dass die Welt vom Leid der Eziden und insbesondere dem der ezidischen und christlichen Frauen erfährt, den Genozid in Shingal anerkennt und den Minderheiten im Irak internationalen Schutz gewährt, um sie vor weiteren Übergriffen dieser Art zu schützen.

© hawar-hilfswerk